Ein erweiterter Horizont rund um die aufsuchende und außerklinische Versorgung der Psychiatrie

10. Oktober 2024

Andreas Teuschel (Koordinator, Leitung Pflege und stellvertretende Leitung der Aufsuchenden Psychiatrischen Akutbehandlung) nutzte eine erneute Reise nach British Columbia und Alberta, um mit Fachkolleg:innen in den Austausch zu treten. Das macht er seit zehn Jahren mittlerweile mindestens einmal im Jahr, um – kurzum: über den Tellerrand zu blicken. So hat sich ein Netzwerk entwickelt, durch welches Einblicke in die jeweiligen Arbeitswelten ermöglicht werden. 

Was sich in Deutschland noch im Aufwuchs befindet - die Stationsäquivalente Behandlung (StäB) (derzeit gibt es deutschlandweit etwa 70 Teams) und bei uns am AGAPLESION ELISABETHENSTIFT Aufsuchende Psychiatrische Akutbehandlung (APA) heißt - wird in Übersee bereits seit Jahrzehnten mit einem völlig anderen Selbstverständnis gelebt. Auch in Deutschland ist mittlerweile klar, dass es sich hierbei nicht um einen Übergangstrend oder ein „Nice-to-have“ unserer Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie handelt, sondern um ein Konzept, dessen Fundament in den vergangenen 2 Jahren errichtet worden ist, derzeit ausgebaut wird, das wächst und vor allem dringend gebraucht wird. Der Bedarf ist da und steigt. Die klinische Psychiatrie verändert sich und muss sich an die Bedarfe der Gesellschaft anpassen. Über 50% der psychiatrischen Fachärzte in Hessen sind bereits über 60 Jahre alt. Neue Stellenprofile sowie Behandlungs- und Versorgungsstrukturen sind alternativlos. Bevor Notlösungen konzipiert werden müssen, erscheint es zielführend - so wie mit APA und weiteren angedachten fortschrittlichen Behandlungsangeboten - vorausschauend neue Wege zu gehen.

Die klassische Behandlung auf Station hat ihre absolute Daseinsberechtigung und wird diese beispielsweise im Rahmen akuter Krisen auch weiterhin behalten. Jedoch gibt es zahlreiche Patient:innen, bei denen die Indikation einer stationären Behandlung zwar gegeben ist, deren Lebensumstände eine solche jedoch nicht zulassen (alleinerziehende Eltern, Menschen mit Haustieren oder belastet durch ausgeprägte Angststörungen, die ihr Zuhause nicht verlassen können uvm.). Der eindrückliche Großteil der APA-Patient:innen sind Frauen, was sich im bundesweiten Vergleich bestätigt. Die meisten Erkrankungen sind tendenziell schwere Depressionen, sonstige affektive Störungen, Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, Angststörungen und weitere Diagnosen, begleitet von stets individuellen Biografien. Die Altersspanne reicht von 18 Jahren bis über das Rentenalter hinaus.

APA bedeutet eine tägliche Behandlung, Sonn- und Feiertage eingeschlossen, wie auf Station (und wird im Grunde auch so abgerechnet, da es sich formal um eine Krankenhausbehandlung handelt). Diese wird gestaltet durch ein multiprofessionelles Team aus (Fach-)Ärzt:innen, Pflegefachkräften, Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen, Ergotherapeut:innen und behandlungserfahrene Genesungsbegleiter:innen (eine unserer neuen Berufsgruppen der Psychiatrie am E-Stift), die zu den Patient:innen ins häusliche Umfeld kommen. Das ist gewinnbringend: Die Gewährleistung eines klinischen Standards, mit dem Bonus, Herausforderungen dort aufgreifen zu können, wo sie entstehen und stattfinden.

Im Rahmen der letzten beiden Kanada-Reisen hat sich Andreas Teuschel mit Funktionären von „The Alex“ in Calgary getroffen und den Erfahrungsaustausch gesucht. „The Alex“ ist eine Non-Profit-Organisation für sektorenübergreifende Themen rund um Gesundheit und soziale Herausforderungen, die vielfältige Angebote gegenüber bedürftigen Mitbürgern und vulnerablen Personengruppen ermöglicht (www.thealex.ca).

Jennifer Eyford (Director Mental Health, Addictions & Outreach) berichtet dahingehend von aktuellen Herausforderungen und der Bandbreite an außerklinischen Angeboten der psychiatrischen Versorgung für die Bevölkerung der Millionenstadt Calgary – also aus dem Bereich, welchen unsere Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am AGAPLESION ELISABETHENSTIFT Darmstadt zunehmend stärker in den Fokus rückt.

Immer wieder stellen wir fest, dass wir in Deutschland mit Entwicklungen konfrontiert werden, hinsichtlich welcher die Kolleg:innen aus dem nordamerikanischen Raum bereits über einschlägige Erfahrungen verfügen. Sei es hinsichtlich des Umgangs mit dem auch dort herrschenden Fachkräftemangel, der Entwicklung neuer Stellenprofile, als Reaktion auf Entwicklungen im Gesundheitssystem, sowie beispielsweise zeitgemäßer Behandlungsansätze bei neu aufkommenden Substanzabhängigkeiten. Hinsichtlich dieser und weiterer Themen im Zusammenhang zur ambulanten und aufsuchenden Versorgung der Psychiatrie möchten beide Seiten den Austausch intensivieren, um voneinander profitieren zu können. Ein erneuter Besuch mit damit einhergehender Hospitation bei einem der ACT-Teams in Calgary (vergleichbar mit APA) ist angedacht. Dann kann erneut wechselseitig geschaut werden: „Wie macht ihr das eigentlich?“, „Was können wir voneinander lernen?“, „Wie begegnet ihr aktuellen Herausforderungen und passt euer Behandlungsangebot daran an?“.

Wir freuen uns sehr über die freundlich kollegiale Zugewandtheit von Jennifer Eyford sowie Steven Richardson und sind dankbar für ihre Bereitschaft zur Unterstützung und den gegenseitigen Erfahrungsaustausch.

Was steht bei uns am AGAPLESION ELISABETHENSTIFT derzeit hinsichtlich APA im Fokus? Das Bewusstsein für die aufsuchende Versorgungsform zu schärfen, das Team auszubauen – räumlich und personell – und den vielfältigen Herausforderungen einer wachsenden Stadt sowie ihrem zum Versorgungsgebiet gehörenden Umland gerecht zu werden.